Chronik: 1940–1949

Was in unserem Dorf geschah:

Mit dem Beginn des Krieges mußten sich die Bewohner unseres Dorfes mit dem Leben auf Karte abfinden. Lebensmittel, Kleider, Seife usw. wurden nur noch gegen Marken ausgegeben. Bei der Ernte wurde unter Aufsicht gewogen und bei Hausschlachtungen durfte auch nur ein bestimmter Teil behalten werden. Jeden Abend mußte nun verdunkelt werden und diese Maßnahme wurde vom Luftschutz­dienst genaustens kontrolliert.

Bis zum Jahr 1941 war das Schicksal mit den Niestern gnädig gewe­sen. Es gab noch keine Gefallenen zu betrauern und größere Luftan­griffe waren ausgeblieben. Aufgrund der Siege in Polen und Frank­reich und der Besetzung Norwegens und Dänemarks war man zu dieser Zeit auch in Nieste vom Sieg Deutschlands überzeugt. Doch es kam anders. Der eigentliche Krieg begann am 21. Juni 1941 mit dem Einmarsch in Rußland. Der gefürchtete "Zwei-Fronten-Krieg" war da! Auch in Nieste waren nun Gefallene zu beklagen. Die Lebens­mittel für die nichtkämpfende Bevölkerung wurden weiter rationiert.

Mit dem Eintritt der USA in den Krieg im Dezember 41 nahmen die Luftangriffe stark zu. Immer häufiger wurden die Bewohner unseres Dorfes in die Luftschutzkeller getrieben, da die Flugzeuge die Kassel in Beschuß nahmen sehr dicht an unserem Dorf vorbeiflogen. Auf dem Dreschplatz zerbarst ein von der Flak getroffener Bomber.

In der Nacht vom 22. zum 23. Oktober 1943 fand der Großangriff auf Kassel statt. In Nieste waren die Straßen hell erleuchtet. Den Feuer­schein der brennenden Stadt konnte man bis Nordhausen im Harz sehen. Am nächsten Morgen bot sich den herbeigeeilten Helfern ein Bild des Grauens. Über 11.000 Menschen fanden in dieser Nacht den Tod. In den umliegenden Dörfern suchten nun viele Städter Zuflucht. Bei uns wurde in Waschkesseln Suppe gekocht und nach Kassel ge­fahren um die Menschen zu verpflegen. In den nächsten Monaten wurden auch bei uns die Luftschutzbunker weiter ausgebaut, da Kassel ein beliebtes Angriffsziel der Alliierten blieb. Der Krieg war in Nieste am 6.4. 1945 vorbei nachdem die Amerikaner in unser Dorf ein­gezogen waren. Die Familien in Nieste hatten 44 Gefallene und 14 Vermißte zu beklagen.

Mit der Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen wurde Nieste wieder zu einem Grenzdorf. Am Ortseingang von Dahlheim her und am Ende in der Witzenhäuser Straße wurden Schlagbäume er­rich­tet. Nieste lag in der amerikanischen Besatzungszone und die meis­ten Ländereien, die in der Gemarkung Escherode und Uschlag lagen, in der britischen Besatzungszone.

Die amerikanische Militärverwaltung sucht nach einem Bürgermeister für Nieste. Altbürgermeister Carl Kraft I erklärte sich bereit, zunächst sein altes Amt wieder zu übernehmen. Da er aber auch in der Kreis­körperschaft zur Mitarbeit herangezogen wurde, löste ihn der Rechts­anwalt Eduard Plattner nach 14 Tagen ab. Aber auch Plattner wurde bereits nach vier Wochen im Amt nach Witzenhausen abberufen. Am 1. Juni 1945 wurde Heinrich Breithaupt als neuer Bürgermeister ein­gesetzt. Dieses Amt war in der kommenden Zeit eine schwere Bürde.

  Bürgermeister Heinrich Breithaupt

Mit dem Potsdamer Abkommen mußte das verkleinerte Deutschland 13,6 Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten aufnehmen. Obwohl unser Dorf schon zahlreiche Familien aus dem zerbombten Kassel aufgenommen hatte, mußte der Bürgermeister nach Möglichkeiten suchen weitere 500 Flüchtlinge aus den deutschen Ostge­bie­ten aufzu­nehmen. Eine Wohnungsnot ohnegleichen war die Folge. Jeder freie Raum wurde von den Gemeindevätern mit Vertriebenen belegt, die dann oft mit 4 – 6 Personen in engsten Zimmern hausen mußten. Die Versorgung mit Lebensmitteln wurde immer schwieriger und Hausrat gab es gar nicht zu kaufen. Im September 1946 beschloß die Gemein­devertretung den Wiederaufbau der Kirche. Aufgrund von Baustoff­mangel zögerte sich der Baubeginn noch bis 1949 hinaus. Am 25. April 1948 wurden wieder Gemeinde- und Kreistagswahlen durchge­führt. In unserem Dorf traten nur Mitglieder der SPD in der Gemein­dewahl an. Die neue Gemeindevertretung und der Gemeindevorstand hatten nun die Grundlage für den kommenden Wiederaufbau zu schaf­fen und wurden auch in die Lage versetzt, echte Aufbauarbeit zu leisten. Der wichtigste Grundstein zum Wiederaufbau war die Währungsre­form am 20. Juni 1948. Bereits einen Tag später rollte ein Lastwagen durch unser Dorf, der vorher unerschwingliche Haushaltsgeräte zu an­nehmbaren Preisen ohne Bezugsschein verkaufte. Im Oktober des sel­ben Jahres wurde auch die erste Kirmes nach Kriegsende gefeiert. Die alte Lebensfreude begann langsam wieder in die Menschen zu­rückzukehren.

Bei den Wahlen zum ersten deutschen Bundestag wurde in Nieste wie folgt gewählt:

  • SPD 62,6 %
  • CDU 12,1 %
  • FDP 17,7 %
  • KPD 3,6 %

Was in Deutschland und der Welt geschah:

Im April 1940 landen deutsche Truppen in Dänemark und Norwegen. Während Dänemark kapituliert wird in Norwegen gekämpft. Am 10. Mai 1940 beginnt die Westoffensive Hitlers. Man besetzt Holland, Belgien und Luxemburg. Einen Tag zuvor ist Winston Chruchill zum neuen englischen Premier gewählt worden. Der Einmarsch in Frank­reich beginnt am 5. Juni 1940. Etwa ein Jahr später, am 22. Juni 1941, wirft Hitler den Nichtangriffspakt mit Stalin über Bord und marschiert in Rußland ein. Der Zwei-Fronten-Krieg ist da. Im Dezember des sel­ben Jahres erklärt Deutschland den USA den Krieg.

Am 20. Januar 1942 wird das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte besiegelt. In Berlin findet eine Konferenz der Vertreter von SS-Dienst­stellen, der Reichs- und der Parteikanzlei, des Ost- und Innen­ministeriums, des Justizministeriums und des Auswärtigen Amts sowie des Beauftragten für den Vierjahresplan statt. Die sogenannte "Endlösung" in der Judenfrage wird beschlossen und somit das Schicksal von über fünf Millionen Juden besiegelt. Allein in dem Ver­nichtungslager Auschwitz werden in den kommenden Jahren drei Millionen Juden vergast.

Lasset uns immer an diese dunkle Ver­gangenheit denken und daraus die wichtige Lehre ziehen, daß dieses sich niemals wiederholen darf!

Im Winter 42/43 zeichnet sich die Wende im Krieg ab. Die sechste Armee ist in Stalingrad eingeschlossen und kapituliert im Januar 43.

Die nächsten Monate sind von Rückzügen der Deutschen geprägt. Am 6. Juni 1944 landen die Aliierten in der Normandie. Nur wenige Wochen später (20. Juli 44) scheitert ein Attentat auf Hitler. Der letzte große Luftangriff findet in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 statt. Das mit etwa 500.000 Flüchtlingen überfüllte Dresden ist das Ziel der alliierten Flugverbände. Die Zahl der Opfer ist ungeklärt, sie liegt zwischen 60.000 und 245.000.

Am 8. Mai wird die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet. In Potsdam beginnt am 17. Juli 1945 die Konferenz der Siegermächte. Deutschland wird in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Berlin erhält einen Sonderstatus. In dieser Stadt werden alle Alliierten einen Sektor erhalten.

Die erste Atombombe wird am 6. August 1945 über dem japanischen Hiroshima abgeworfen, zwei Tage später erfolgt der Abwurf über Nagasaki. Das Atom-Zeitalter hat mit Tod und Verderben begonnen, allein bei den zwei Angriffen auf Japan starben etwa 140.000 Men­schen. An den Spätfolgen sterben noch heute Menschen.

Am 5. Oktober 1945 findet in Wennigsen die erste Gesamtkonferenz der SPD seit dem Ende der Weimarer Republik statt. Die maßgebende Persönlichkeit ist Kurt Schumacher. Bereits im März des Jahres 1946 drängen die Sowjets auf einen Zusammenschluß der KPD und der SPD in der SBZ (sowjetisch besetzte Zone).

Im Oktober 1946 werden in Nürnberg die 22 deutschen Hauptkriegs­verbrecher abgeurteilt, die meisten erhalten die Todesstrafe.

Am 15. Mai 1948 wird der israelische Staat in Palästina ausgerufen. Am 20. Juni des selben Jahres tritt die Währungsreform in Deutsch­land in Kraft. Nur wenige Tage zuvor haben die Sowjets die Zugänge zu den Berliner Westsektoren geschlossen. Die Zeit der Berliner Luft­brücke beginnt. Ab August 1948 wird an einer neuen Verfassung für die drei Westsektoren gearbeitet. Am 1. September 48 konstituiert sich der Parlamentarische Rat, der aus 65 Delegierten der elf west­lichen Landtage gebildet ist. Konrad Adenauer wird als Vorsitzender gewählt. Im Februar 1949 verabschiedet der Parlamentarische Rat den Entwurf für ein Grundgesetzt. Der Entwurf wird den westalliierten Mi­litärgouverneuern zur Billigung zugeleitet. Am 12. Mai endet die Berlin-Blockade und neun Tage später wird in Bonn das Grundgesetzt verkündet. Am 14. August finden die ersten Bundestagswahlen statt. Die CDU/CSU erreicht 34,6%, die SPD 32,6% der abgegebenen Stim­men. Konrad Adenauer wird der erste Kanzler der jungen Republik. Nur wenig später wird als Gegenakt die DDR gegründet.

www.jusos.de