Chronik: 1900–1909
Was in unserem Dorf geschah:
Im Jahr 1899 wurden in unserem Dorf 100 Kühe gehalten. Seit langem drängte das Landratsamt in Kassel die Gemeindeväter bei diesem Viehbestand den einzigen Gemeindebullen durch die Anschaffung eines zweiten Vatertiers zu entlasten. Man sträubte sich allerdings mit Macht dagegen. Sicherlich sah man die Tätigkeit dieses wichtigen Tieres nicht als so beschwerlich an. Erst 1901 hatte man ein Einsehen und kaufte für 400 Mark ein zweites Tier.
Man lehnte dafür aber den Anschluß an das Fernsprechnetz wegen der hohen Gebühren von 80 Mark jährlich ab.
Der Bürgermeister erhält ab 1899 ganze 270 Mark Jahresgehalt. 1901 wird es auf 300 Mark, 1906 auf 400 Mark jährlich festgesetzt.
Zwei Jahre vor der Jahrhundertwende wurde in Nieste zum ersten mal nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht gewählt. Bis zu diesem Zeitpunkt bestand der Gemeinderat nur aus Land- und Gastwirten.
Bei der Wahl im Marz 1898 wurden die ersten vier Arbeiter in die Gemeindevertretung gewählt, die aber keiner politischen Partei angehörten.
In diesem Jahr betrug das Steueraufkommen unserer Gemeinde 9.000 Mark. Diese Summe wurde gedrittelt. Wer die ersten 3.000 Mark aufbrachte, gehörte zur 1. Klasse und wählte 4 Gemeindevertreter. Diese Klasse bestand aus fünf bis sieben Wahlberechtigten.
Die nächste Gruppe, die ebenfalls 3.000 RM aufbrachte, bildete die 2. Klasse und bestand aus 40-50 Wahlberechtigten. Auch sie wählten vier Gemeindevertreter.
Den Rest bildete die 3. Klasse. Dies waren etwa 120 Wahlberechtigte und diese wählten ebenfalls vier Gemeindevertreter.
Die ersten Gemeindevertreter der 3. Klasse waren Justus Kraft, August Krumme, Heinrich Meier und Wilhelm Kreger.
1904 schied Justus Kraft aus der Gemeindevertretung aus. Sein Sohn Carl war vom Bürgerverein und seiner politischen Organisation (der SPD) als Kandidat für die 3. Klasse mit großer Mehrheit gewählt worden.
Carl Kraft war somit der erste sozialdemokratische Gemeindevertreter in unserem Dorf. 1908 bekam er durch Martin Zinke und Christoph Mentel Verstärkung.
Bei der Reichstagswahl 1907 erhielt der Kandidat der SPD bereits 63 Stimmen.
Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hat unser Dorf große finanzielle Sorgen. Im Jahr 1903 wurden die Gemeindesteuern auf 150% des alten Satzes angehoben. In diesem Jahr beginnt für unsere Gemeinde die Zeit der großen Schuldenlast. Für den Bau der ersten Wasserleitung vom Mäuseborn werden 20.000 Mark und für den Bau der neuen Schule 30.000 Mark bei der Landeskreditkasse geliehen.
Die ersten Wassergeldsätze wurden im Jahr 1904 wie folgt festgelegt:
- pro Person 1,20 Mark
- pro Pferd 1,20 Mark
- pro Rind 1,20 Mark
- pro Schwein 0,60 Mark
- pro Ziege 0,60 Mark
jeweils jährlich. Wegen der hohen Verschuldung wurden in diesem Jahr die Gemeindesteuern auf 200% erhöht.
Es mag damals in unserem Dorf recht viel Unruhe und echte Sorgen gegeben haben. Neben der Steuererhöhung wurde im gleichen Jahr auch das Wassergeld erhöht. Die Mittel für den Schulneubeu und die Anlage der Wasserleitung reichten nicht aus und die Gemeinde mußte weitere 20.000 Mark borgen.
Im Jahr 1905 war die Schuldenlast der Gemeinde auf 93.500 Goldmark angewachsen. Eine ansehnliche Summe für ein kleines Dorf mit rund 600 Einwohnern.
Unter all diesen Umständen könnte man es fast als verständlich bezeichnen, daß der Gemeindeausschuß die Einrichtung einer Fortbildungsschule (für Schulentlassene) und die Einrichtung einer zweiten Lehrerstelle ablehnte.
Eine zweite Lehrerstelle sollte nur eingerichtet werden, wenn die Staatskasse alle Gehaltskosten übernehmen würde. Nach zähen Verhandlungen wurde 1907 diese zweite Lehrerstelle eingerichtet.
Was in Deutschland und der Welt geschah:
Am 1. Januar 1900 treten das 1896 verabschiedete Bürgerliche Gesetzbuch BGB und das 1897 verkündete Handelsgesetzbuch HGB in Kraft. Mit der Reichsgesetzgebung werden weitere materielle Grundlagen der nationalen Einheit geschaffen. Nachdem in den deutschen Ländern lange Zeit unterschiedliche Gesetze galten, ist von nun an auf dem Gebiet des Privatrechts die deutsche Rechtseinheit hergestellt.
Am 15. April1900 wird in Paris die Weltausstellung eröffnet.
Das Jahr 1901 wurde bereits zu Beginn dieser Chronik in Stichworten abgehandelt.
Bei den 11. Reichstagswahlen am 16. Juni 1903 werden die Sozialdemokraten zweitstärkste Kraft im Land.
Im September 1904 gelingt es Wilbur Wright mit seinem Flugmodell Flyer 2 in einem Kreisflug das Starfeld zu umrunden. Im Oktober des selben Jahres übersendet Kaiser Wilhelm II. einen Vertragsentwurf an Zar Nikolaus II. In einem Begleitbrief heißt es, das Bündnis sei als eine "Feuerversicherungsgesellschaft gegen Brandstiftung" anzusehen. Der russische Außenminister verhindert eine Unterzeichnung, um Frankreich nicht zu brüskieren.
Bei der Nobelpreisverleihung 1905 stehen drei deutsche Wissenschaftler im Mittelpunkt, die für ihre Arbeiten ausgezeichnet werden. Es sind Robert Koch (Medizin), Philipp Lenard (Physik) und Adolf Ritter von Baeyer (Chemie).
Am 7. Februar 1906 findet eine große Debatte über das Dreiklassenwahlrecht in Preußen im deutschen Reichstag statt. Die Sozialdemokraten beantragen allgemeines, direktes und geheimes Wahlrecht in jedem Bundesstaat und in Elsaß-Lothringen. Der Antrag wird abgelehnt. Am 18. April des selben Jahres wird San Francisco durch ein starkes Erdbeben erschüttert. Dem Beben fallen etwa 1000 Menschen zum Opfer. Über 28.000 Gebäude werden zerstört.
Am 9. Januar 1908 stirbt Wilhelm Busch im Alter von 76 Jahren. Das Ford T-Modell, besser als Tin Lizzy bekannt, wird ab dem Jahr 1908 auf dem Fließband gefertigt. Am 6. April 1909 erreicht der Amerikaner Robert Edwin Peary wahrscheinlich als erster Mensch den Nordpol.